Diese will ich nicht beleidigen, denn ich nehme zu ihren Gunsten an, dass sie sich für GESCHICHTE interessieren, wo dann, aufgehängt an den Lebensläufen ihrer Vorfahren, die Handelsschifffahrt, die Auswandererwellen im 19. Jahrhundert, etc. eine neue Farbigkeit und Präsenz bekommen - weil eben ein Ur-Ur-Ur-Ahne mit dabei war.
Aber für sich selbst, ihre ganz individuelle Biografie können sie wohl kaum einen Erkenntnisgewinn verbuchen?
Den gibt es doch nur, wenn man sich mit den Lebensgeschichten derer beschäftigt, die einen geprägt haben und die man nun auch von einer anderen Seite kennen lernt, und entweder besser versteht oder erschrocken neu bewerten muss, wie die allerliebste Großtante, die immer so eifrig Judenbesitz ersteigert hatte o.ä.
Deshalb interessiere ich mich noch für meinen Großvater, Roter ohne Courage, uneheliches Kind, zum Automechaniker ausgebildet dank der Förderung eines engagierten Lehrers. Oder für die Biografie meiner Großmutter, die auch nach 1945 immer ängstlich darauf bedacht war, gefährliche Äußerungen ihres Ehemannes zu unterbinden, siebtes von 12 Bauernkindern, ohne Ausbildung, obwohl der Lehrer es für das begabte Mädchen empfohlen hatte.
Großvaters Vater, der reiche Bauernsohn, der die Magd schwängerte, aber dann auf Druck der Verwandtschaft die reiche Erbin heiratete, ist ein Stoff für ein schwerblütiges Sozialdrama, ebenso wie die Geschichte vom Vater meiner Großmutter, der seinen großen Hof innerhalb von zehn Jahren versoffen hat. Das hat zwar das Leben meiner Großeltern geprägt, aber die Bedeutung für mein Selbstverständnis ist nur noch gering, Tendenz weiter abnehmend von Generation zu Generation.

Aber was bittschön erhoffen sich diese Hobby- Ahnenforscher, wenn sie sich Stammbäume erstellen lassen, in Taufchroniken, im Internet kramen, mit Verwaltungsangestellten in Milwaukee oder Mürzzuschlag in Korrespondenz zu treten versuchen, mit Fremden, die zufälligerweise den gleichen Ur-Ur-Urgroßonkel haben? Ist es der Wunsch, in ein weltweites Netz von irgendwie Vertrauten eingebunden zu sein? Die Hoffnung, in der Ahnentafel einen Prominenten zu entdecken, den man stolz vorzeigen kann?

Schauspieler Benedict Cumberbatch hat entdeckt, dass er um diverse Ecken mit Conan Doyle verwandt ist und auch mit irgendeinem Herzog - hat der Mann es nötig, das als Nachricht zu posten?

Erklärt es mir, Freunde, warum ihr so viel Zeit und Energie in solche Familienforschungen steckt!
Warum tut ihr euch etwas freiwillig an, das euren Großeltern/Eltern der Rassenhygiene wegen zwangsverordnet wurde?
Ich werde versuchen, eure Gründe als alternative Fakten offen wahr zu nehmen.



Und ich weiß ja, dass ihr wenigstens nicht zu denen gehört, die sich auch noch ein eigenes Familienwappen kreieren lassen.
Bei der Internetsuche zu "Familienwappen" erscheinen als erstes die Firmen, die individuelle Wappenerstellung anbieten, auch gleich zum Downloaden.
Und man kann sich solche Kunstgebilde aus heraldischem Kitsch und Alltagsrequisiten sogar tätowieren lassen - je nach Wertschätzung, vermute ich, auf den Oberarm oder eine Arschbacke.