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Ein Mann, Ende Vierzig, (verwandt mit dem sehr guten Freund, von dem ich dies alles erfahren habe) bisher gesund, sportlich, spät geschlossene, aber gute Ehe, zwei Kinder, 9 und 12, anstrengender, aber gerne ausgeübter Beruf, bemerkt bei sich selbst vor nunmehr anderthalb Jahren häufige Konzentrationsschwierigkeiten, zunehmende Vergesslichkeit, Gedächtnislücken. Mach mal einen langen Urlaub, heißt es.
Doch das hilft wenig bis nichts. Bevor nun ein Sabbath-Jahr vereinbart wird, sucht er, gedrängt von seiner Frau, den Hausarzt auf, der ihn eher routinemäßig zu einem Neurologen schickt.
Ich kürze ab: Untersuchungen und Beobachtungen über einige Zeit hinweg ergeben Niederschmetterndes: Der Mann leidet unter einer eher seltenen und genetisch bedingten Form von Demenz mit unaufhaltsamer Degeneration, die im Vergleich zur bekannteren Altersdemenz geradezu im Zeitraffer voranschreitet.
Der Krankheitsverlauf ist absehbar: Der Patient wird in naher Zukunft seine Erinnerungen verlieren, alles, was seine Persönlichkeit ausmacht, am Ende auch die Kontrolle über die Ausscheidungsorgane. Wie lange allerdings ein gesunder und gut trainierter Körper in diesem Zustand in einem Pflegeheim weiter existieren kann, ist unklar.
Doch der Mann, von dem die Rede ist, war immer gewohnt, im Beruf wie im Leben Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen, und nach dem ersten Schock sucht er den Kontakt zu einer Organisation in der Schweiz.
Dort ist man zunächst zurückhaltend, fordert medizinische Gutachten, persönliche Vorgespräche. Die mitgebrachten Überprüfungsdaten und Testergebnisse, die ein fast monatlich sich verschlechterndes Ergebnis der kognitiven Fähigkeiten zeigen, überzeugen auch die Schweizer Mitarbeiter von der Realität der Krankheit und dem Ernst des Anliegens.
Schnelles Handeln wird dennoch nicht unterstützt, immerhin ist Demenz keine Krankheit, die ursächlich zum Tode führt, man kürzt also nicht einen unerträglich schmerzhaften Leidensweg ab, sondern man beendet eine Existenz, die der Betroffene für sich als unwürdig und unerträglich empfindet, und das noch bevor sich dieser Zustand in vollem Umfang eingestellt hat!
Allerdings: Wartet man, bis die Krankheit zu weit fortgeschritten ist, kann der Betroffene vielleicht nicht mehr als mündige Person gelten, die ihren anhaltenden Willen eindeutig bekunden kann - was soll man dann tun?
Mittlerweile reagieren Verwandte und Bekannte erschrocken auf das Unheil, und wie so oft in solchen Fällen von Hilflosigkeit wird hektisch beschwichtigt, man zitiert Zeitungsberichte, dass Demenzkranke eigentlich ganz glücklich seien in ihrer schrumpfenden Welt, eine Art zweite Kindheit erleben. Gerne wird auf das Beispiel Walter Jens und seinen Bauernhof mit den Streicheltieren verwiesen.
Das lässt nicht viel Verständnis erwarten für den Entschluss des Mannes, den Weg in die Auslöschung durch eine eigene Entscheidung abzukürzen. Deshalb werden nur absolut Vertrauenswürdige in das Vorhaben eingeweiht - es könnte ja leicht durch ( vermeintlich) Wohlmeinende vereitelt werden, die hier nur einen Fall für die Psychiatrie sehen.
Aber auch den allernächsten Freunden und Angehörigen fällt die vorbehaltlose Zustimmung für diesen Abschied nicht leicht, auch die Ehefrau sieht zunächst nur angstvoll die Lücke, das Verschwinden des Lebenspartners. Erst durch lange Gespräche verändert sich ihr Gefühl und sie ist bereit (wie sie auch meinem Freund erklärt) aus Liebe zu ihrem Mann seinen Entschluss mit zu tragen und ihn bis zum Ende zu begleiten.
Noch schwieriger wird es mit den Kindern, die das Unheil spüren, aber noch nicht rational verarbeiten können. Und wie sollen sie auch zwischen den zwei schrecklichen Alternativen wählen: einem Vater, der sich plötzlich aus ihrem Leben verabschiedet, und einem Mann, der diesem zwar äußerlich ähnelt, seine Söhne aber nicht mehr erkennen wird? Mit der Last dieser Entscheidung müssen die Eltern fertig werden.
Inzwischen ist die Krankheit so weit fort geschritten, dass Phasen der völligen Klarheit nur noch wie Inseln aus der Verwirrung auftauchen. Die Angst des Mannes wächst zunehmend, und nun ist die Organisation bereit, schnell einen endgültigen Termin zu vereinbaren.
Ich kürze wieder ab:
Mein Freund begleitet das Paar auf dem Weg in die Schweiz, vor allem, um die Ehefrau bei der Rückkehr zu unterstützen. Es findet eine letzte ärztliche Konsultation statt. Nach der tränenreichen Verabschiedung zieht sich der Freund zurück. Die Ehefrau wird ihm berichten, sie habe den Abschluss durchaus als würdevoll empfunden, begleitet von der Anteilnahme der Helferinnen, die keineswegs routiniert kalt ihr Geschäft erledigten, sondern denen die Tragik des Falls durchaus nahe zu gehen schien.
(Als mein Freund auf der Heimfahrt das Autoradio einschaltet, wird gerade "Tears in Heaven" gespielt. Er kann darüber weder lächeln noch weinen, er muss jetzt die Witwe wieder nachhause und ins Leben zurück bringen.)
Das gute Ende einer schlimmen Geschichte?
Ich habe sie, wie schon gesagt, für solche Andere erzählt, die nicht hysterisch in Ablehnung verfallen, sondern darin einen Denkanstoß, eine Bestätigung oder auch einen Klärungsbedarf erkennen können.
Marina Dietz
2014