Mein Freund A., den ich als ernst zu nehmenden Geschichtsbegeisterten gar nicht gemeint hatte, schrieb mir auf meinen BLOG-Eintrag eine Antwort mit interessanten Einwänden, darunter auch einem guten Grund, warum gewisse Personen durchaus Ahnenforschung betreiben sollten.
"...Ich habe ja selber uralte Dokumente meiner Vorfahren aus der alten österreichischen Monarchie gefunden. Meine Ahnen wurden dereinst von Maria Theresia ins Kronland gelockt, um die Prärie rund um die Karpaten in Ackerland zu verwandeln.
Schwer abzuschätzen, welche Einflüsse die verschiedenen Volksgruppen im Vielvölkerstaat auf meine Chromosomen haben. Der Name Münster verrät die deutsche Herkunft, die Linie Nowotny, die sich darunter gemischt hat, deutet auf Wien hin, wo der Kaiser um 1850 herum zahlreiche Tschechen als Billigarbeiter zum Bau der Ringstraße geholt hat. Sie sind geblieben und schimpfen heute auf Gastarbeiter und Flüchtlinge.
Mich faszinieren auch die alten Soldatenbilder meiner Urahnen aus den Zeiten des ersten Weltkriegs, die sich zwischen den alten Unterlagen fanden. Vergilbter grimmiger Stolz in Uniform. Liest man dazu das Weltkriegsdrama "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, wundert man sich auch nicht mehr, wie deformiert sie aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Die Marotten und Eigenheiten der Urgroßväter und Großväter, in späteren Erzählungen für die Nachkommen meist anekdotisch verbrämt, werden dadurch fassbar.
Ich gönne jedem AFD-Wähler den Frust einer Familienforschung, wenn er in seinem Stammbaum den Beweis seiner Unreinrassigkeit sehen muss. Wobei die Kuckuckskinder in den Dokumenten ja gar nicht erfasst sind.
Wer sich aber 500 Jahre lang in der dörflichen Gemeinschaft unvermischt durchgerammelt hat, dürfte über kurz oder lang an Inzucht eingegangen sein.
Stolz auf ein Familienwappen zu sein, auf das verbriefte Vorhandensein einer Sippschaft, ist natürlich so dämlich wie der National- bzw. Regionalstolz auf sein altes Nummernschild aus den Zeiten vor der Gebietsreform. Die sind ja jetzt wieder zugelassen und und es wird auch reichlich Gebrauch davon gemacht. So wird das Gemeinschaftsgefühl gestärkt in den schweren Zeiten der Globalisierung. Und der Donauwörther freut sich, wenn er endlich wieder Dillinger sein darf.
Wer aber unglücklicherweise mit keinem Familienwappen glänzen kann, läuft dann eben mit einem FC Bayern Wimpel durch die Welt.
Ein wirklicher Einwand gegen die Beschäftigung mit seiner Vergangenheit ist das für mich nicht."
Unabhängig davon fand auch mein Freund M. das Thema wichtig genug für eine Replik, die, sorry, eigentlich ein Bestätigung für mich ist. Er schreibt:
"Ich war 11, und im Garten des Pfarrhofes blühte der Rittersporn rund um die Hausbank. Der Pfarrherr, einer von den Barocken und Gemütlichen, plauderte aus dem Nähkästchen seiner Familienforschung und gab mir mit auf den Lebensweg, dass Richard Strauss und Ludwig Thoma meine entfernten Vettern waren.
Der Pfarrherr war zum Familienforscher geworden ob der vielen Male, die er vor kurzem noch in seinen alten Taufregistern nachsehen musste. Vor der Gründung des Bismarckreichs gabs ja noch keine Standesämter, nur die Kirchen schrieben auf, wer geboren, verheiratet und begraben wurde in der Gemeinde, und die gesamte Geistlichkeit landete unversehens im 18. bis 16. Jahrhundert.
Jahrzehnte später, schon in diesem Jahrtausend, traf ich auf einen Berliner Studienrat, der sich als Verwandter einführte. Unsere Familienzweige hatten sich zwar schon um 1750 getrennt, aber "wenn man sooo nah verwandt is, wa, kann man sich ooch duzen", meinte der Studienrat. Der war ein Familienforscher nun der zweiten Generation geworden, nicht mehr barock-gemütlich, sondern systematisch. Ein gestandener Genealoge. Wie es inzwischen hierzulande viele gibt.
Was gibts da groß zu erforschen, fragte ich den neu-alten Verwandten, wenn ich doch sicher sein darf dass ich nicht von
Johannes Kepler abstamme, Bill Gates kein Cousin zweiten Grades ist und sogar Ansprüche auf fürstliche Ländereien
in Mähren unwahrscheinlich sind ? Der Studienrat blieb mir, beleidigt, die Antwort schuldig.
Weil ich die Ur-Zündung der neudeutschen Ahnenforschung als Massensport erwähnt hatte : die Nürnberger Rassengesetze von 1935. Obwohl es nicht mehr Gesetzespflicht ist, maulwurft der Mehrheitsdeutsche in seinen Stammbäumen, die Hobby-Genealogen erfüllen den Auftrag von Nürnberg. Eben jene, die sich ansonsten für Geschichte nicht im mindesten interessieren.
Das Wegsehen von der Historie gehört zum guten Ton, der Blick zurück reicht gerade mal 1948, bis "zur Währung".
Die Chiemsee-Konferenz?
Der Friede von Brest-Litowsk?
Der Wiener Kongress?
Der Reichsdeputationshauptschluss -
Ahnenforschung und Geschichtsvergessen sind zwei Seiten ein und derselben teutonischen Medaille."